Ausbildungsreform: in Kleingruppen ans Patientenbett
Ein Gespräch mit dem medizinischen Studiendekan

"Es ist ja so, da▀ die Absolventen eines Medizinstudiums mit 26 bis 28 Jahren 'Opis' sind, wenn sie endlich in die Wissenschaft gehen können. Unser Problem in Deutschland ist doch, da▀ die Rentner zu jung und die Studenten zu alt sind. Und daran müssen wir etwas ändern!". So drastisch formuliert Prof. Dr. Heinz-Dieter Wehner, Direktor des Gerichtsmedizinischen Institutes und seit Oktober 1995 gewählter Studiendekan für Humanmedizin der Medizinischen Fakultät, eines der Probleme, die man in Tübingen durch eine Reform der Medizinerausbildung gemeinsam angehen will. Als Studiendekan hat er die Aufgabe, diese Reformbemühungen zu koordinieren, in neue Curricula münden zu lassen und vor allem die Kollegen aus dem Kreis der Hochschullehrer immer wieder aufs neue für die Notwendigkeit eines Umdenkens zu motivieren. "Dabei sind alle - zurecht - ja auch davon überzeugt, da▀ sie bisher gute Arbeit geleistet haben, und sehen das Problem eher im Lernverhalten der Studenten".

Die Klagen der Studenten sind ein Ausgangspunkt der Reformbemühungen: "Sie klagen, da▀ die Ausbildung zu wenig praxisbezogen ist und da▀ man hinterher mit dem Wissen nichts anfangen kann. Sie wollen den Stoff nicht in Vorlesungen mit riesigen Teilnehmerzahlen, sondern in direktem Kontakt mit dem Patienten dargeboten bekommen. Die Aufeinanderfolge der Lehrveranstaltungen wird von ihnen als unsystematisch und wenig lernökonomisch empfunden". Für Wehner ist klar, die Kritik mu▀ß ernst genommen werden, die Vorschläge der Studierenden müssen aufgenommen und umgesetzt - "und nicht auf die lange Bank geschoben werden." Schon deswegen nicht, um nicht von der erwarteten 8. Novellierung der Approbationsordnung überrascht zu werden, sondern im Gegenteil mit eigenen Initiativen auf sie vorbereitet zu sein.

Was ist nun in Tübingen bereits geschehen? Seit einem Jahr ist man in vielen medizinischen Fächern zum Kleingruppenunterricht übergegangen. Die nötige Lehrkapazität für das Kleingruppenmodell ist vorhanden, das hat Heinz-Dieter Wehner nachrechnen lassen. Der Frontalunterricht der Vorlesungen wird dabei abgelöst von Gruppen mit max. 20 Teilnehmern, die sich alle noch persönlich ansprechen lassen, deren Lernfortschritte kontrolliert werden können.

Das ist zugleich ein erster Schritt im Hinblick auf eine bessere Strukturierung des Studiums. Um sie zu schaffen, sollen jetzt stärker im Sinne der Empfehlungen des Wissenschaftsrates "Gegenstände und nicht mehr Fächer unterrichtet werden". Als Pilotprojekt wurde im letzten Sommersemester ein klinisches Curriculum "Hepatologie" entwickelt, das der Kinderchirurg Prof. Dr. Paul Schweizer koordinierte. Die Lebererkrankungen wurden dabei aus dem Blickwinkel der verschiedenen Disziplinen betrachtet: Internisten, Pathologen, Pharmakologen, Chirurgen etc. lösten sich im Unterricht ab. Geplant sind weitere elf organbezogene Lehrveranstaltungen und danach immer komplexer werdende krankheitsbezogene Curricula. Die drei Pilotprojekte des kommenden Wintersemesters werden sein: Nephrologie (also die Beschäftigung mit der Niere) unter Leitung von Prof. Teut Risler, Endokrinologie (die Beschäftigung mit den Hormonen) unter Leitung von Prof. Fritz Seif und Erkrankungen der Herzkranzgefäße unter Leitung von Prof. Rainer Haasis.

Wehner erläutert, wie weit dies gehen wird: "Die Kunst der Studienreform ist im wesentlichen die Schaffung eines geordneten Studienaufbaus. Der richtige Gegenstand muß zum richtigen Zeitpunkt gelehrt werden." Bis alle Curricula entwickelt und aufeinander abgestimmt sind, ist noch ein gewaltiger organisatorischer Aufwand zu betreiben, die Reform daher auch nur in Schritten durchzuführen. Die Stundenpläne aller beteiligter Semester und Hochschuldozenten sind in viel detaillierterer Weise aufeinander abzustimmen als bisher. Der organorientierte Unterricht ist beispielsweise mit dem klinischen Untersuchungskurs am Patienten und dem klinisch-chemischen Kurs zu synchronisieren. Der Studiendekan wird bei dieser Koordination unterstützt von zwei neueingestellten akademischen Kräften im Dekanat, den Lehrreferentinnen. Gefordert ist aber vor allem auch die Bereitschaft der Professoren (Wehner: "Meine Kollegen sind ja von Hause aus Individualisten") zu einer ganz besonderen Form von Zusammenarbeit. Wehners Erfahrung ist, daß die Dozenten außerordentlich kooperativ sind und die Reform mittragen, teilweise mit einem Enthusiasmus, der "bei über 50jährigen gar nicht mehr so verbreitet sein soll."

Vom Hörenden zum aktiv Lernenden

Aber auch auf die Eigeninitiative der Studierenden wird gesetzt. Sie sollen sich vom bloßen Zuhörer zum aktiven Lerner fortentwickeln und in die Lehre selbst einbezogen werden: Was in den Geisteswissenschaften selbstverständlich sei, müßte nun auch in die Medizin Einzug halten, nämlich die Erarbeitung des Stoffes in Seminaren mit kleinen Vorträgen, denn "wann muß ein Mediziner zum ersten Mal frei reden? Nach seiner Promotion!" Man will zudem problemorientierte Lerngruppen schaffen: Zu Beginn eines Semesters soll eine kleine Gruppe eine konkrete Aufgabe erhalten, z. B. einen Krankheitsverlauf zu analysieren, dazu Therapievorschläge zu entwickeln und Prognosen abzugeben bis hin zu einem klinischen Gutachten. Das eigenständige kreative Arbeiten und zugleich das kollegiale Miteinander sollen auf diese Weise eingeübt werden. Nehmen die Studierenden die Reformen mit Begeisterung auf? Im Moment ja, denn sie kommen ihren Wünschen entgegen. Aber: "Die Reform ist eine Art der Verschulung. Die alte Form der fachbezogenen Veranstaltungen ermöglichte vielmehr die Eigenstrukturierung im individuellen studentischen Lerntakt und zwang nicht unbedingt zum Besuch von Vorlesungen. Wir können also sicher sein, daß eine spätere Studentengeneration sich wieder über diese Form der Verschulung beklagen wird."

Ausbildung zum wissenschaftlichen Arbeiten

Apropos Verschulung. Muß die Medizinerausbildung denn unbedingt an einer Universität erfolgen? Wehner erwähnt die Alternative Medical Schools wie in den USA, betont dann aber: "Wenn man die Medizin in eine Medical School verpflanzt, kann man zwar gute praktische Mediziner ausbilden, aber der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt wird gebremst. An einer Universität dagegen muß man immer zusätzlich darauf achten, daß Medizinstudenten so ausgebildet werden, daß sie später auch selbst Wissenschaftler sein können." Deswegen sehe das neue Curriculum vor, daß parallel zur klinischen Ausbildung auch die wissenschaftliche Ausbildung laufe mit dem Ziel des selbstständigen Forschens.

Wehner verweist auf das dafür notwendige wissenschaftliche Umfeld, das an einer Universität wie Tübingen gegeben ist: Naturwissenschaftliche Fakultäten und enge Forschungskooperationen in Sonderforschungsbereichen und mit den Max-Planck-Instituten.

Direkt damit zusammen hängt die Notwendigkeit einer Verkürzung des Medizinstudiums, wie im Eingangsstatement postuliert. Wehner sieht in der geplanten Reform gute Möglichkeiten durch die Vermeidung von unökonomischer Redundanz: "Früher wurde das Herz siebenmal unterrichtet, nämlich in der Anatomie, der Physiologie, im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel in der Biochemie, in der Pathologie und schließlich in der Inneren Medizin und Chirurgie. Jetzt wird es integral als gegenstandsbezogenes Curriculum mit höherem Lerneffekt vermittelt." Wehner ist daher zuversichtlich, daß sich sein "Credo" auch umsetzen läßt: "Ich möchte in möglichst kurzer Zeit gute Mediziner ausbilden, die man mit sehr gutem Gewissen auf Patienten loslassen kann, und ich möchte möglichst viele junge talentierte Menschen haben, die in ihrer kreativsten Phase in die Wissenschaft einsteigen können".

Michael Seifert

Prof. Dr. Heinz-Dieter Wehner ist Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts und Studiendekan der Medizinischen Fakultät (Humanmedizin)

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